20.07.2016 / 20:31 Uhr

[Essays & Trivia] Warum wir immer noch Horrorfilme gucken

Geht man abends ins Kino, wird man von einem erschlagenden Programm überwältigt, welches einen unweigerlich zur Wahl zwingt. Möchte man sich amüsieren, an einem Adrenalinrausch teilhaben, Sehnsüchte spüren oder sich gruseln? Für jedes eben dieser Verlangen gibt es ein Genre, einen aktuellen und medial geförderten Film.

Weshalb sollte man sich gerade erschrecken lassen wollen, wenn man nicht gerade ein grenzensuchender Teenager ist? Wähnt man sich bei einem Liebesfilm das große Glück selbst zu finden, während eines Actionfilms selbst der Held zu sein oder bei der Komödie mit plötzlichen Gags überrascht zu werden, sitzt man bei einem Horrorfilm oft zusammengekauert dar, hoffend, dass der Spuk aufgelöst wird.

Ein vergleichsweises schlechtes Gefühl!

Auch ist der Horrorfilm verpönt, als reine Schockmachinerie mit schlechten Dialogen gebrandmarkt. In der Tat scheint es, dass die Zeiten der großen Horrorfilme wie eines Scream oder Nightmare on Elm Street, die mit guten Ideen und Twists punkten konnten, vorbei sind. Letztlich scheinen die SAW-Reihe und der zu seinem Erscheinen Wellen schlagende Hostel den Ruf ihres Genres weiter nach unten gezogen zu haben – als Extreme, die die Folter mit einer nahezu pornografischen Ästhetik in Szene setzten. Wozu also sollten wir uns diese Machwerke noch geben – haben wir nicht schon genug kreischende, barbusige Frauen gesehen, genug Kunstblut als solches identifiziert und die Angst vor übermenschlichen Killern verloren?

Szenenfoto aus Hostel 2: Der Folter-Horrorfilm versucht sich in seiner Gewaltdarstellung immer wieder zu überbieten. Die Story bleibt dabei jedoch auf der Strecke.

Der Folter-Horrorfilm versucht sich in seiner Gewaltdarstellung immer wieder zu überbieten. Die Story bleibt dabei jedoch auf der Strecke. (Szenenfoto aus Hostel 2)

Der Horrorfilm ist keineswegs eine Randerscheinung des Kinos, die ihren Zenit erreichte und nun zur Bedeutungslosigkeit verdammt ist. Verlässt man die technische Dimension und widmet sich nur dem Thema „Horror“, verändert sich die Diskussion schlagartig. Seine Wurzeln reichen tief in die mythologischen Zeiten menschlichen Denkens hinein.

Das älteste literarische Werk „Gilgamesch“ erzählt von dem gleichnamigen Herrscher, der aus seiner Stadt ausreisen und mit seinem Freund gegen tierische Ungeheuer kämpfen muss. Als sein Freund Enkidu stirbt, verzweifelt Gilgamesch so sehr an den Fragen nach den äußersten Dingen des Lebens, dass er das Wasser des Todes überschreitet und die Unterwelt aufsucht. Klingt schon ein bisschen düster, oder?

Ähnlich, aber deutlich perfider geht es in einem der wichtigsten Mythen Ägyptens zu. Dort wird beschrieben, wie Osiris von seinem Bruder Seth beim Abendmahl ermordet, danach zerstückelt und im ganzen Land verteilt wird. Seine Gattin Isis findet die Stücke aber und setzt sie zusammen. Mit dem toten Körper ihres Mannes zeugt sie nun ihren Sohn Heros, der von Geburt an darauf getrimmt wird, Seth umzubringen; Osiris Geist wacht derweil über die Unterwelt.

In Nordeuropa waren es Götter wie Thor und Odin, die sich den Riesen zur Wehr setzen mussten, im Bruderkampf standen und die Welt im Gleichgewicht hielten, um nicht in einem Blutbad zu ertrinken. Derweil zog die griechische Mythologie die Mittelmeerregion in seinen Bann. Auch hier standen Männer wie Frauen unerbittlichen Gefahren gegenüber. So muss Odysseus einen riesigen, menschenfressenden Zyklopen betrunken machen und ihm das Auge ausbrennen, um von dessen Insel zu entkommen, während seine Frau Penelope auf Ithaka von lüsternen Aristokraten umgarnt wird, die sich in ihr Haus eingenistet haben.

Jedenfalls in Europa schwindet die Kreativität, aber nicht die gruselige Tiefe der Mythen im Mittelalter. Der „Ackermann aus Böhmen“ verflucht den Tod dafür, dass dieser seine Frau zu sich genommen hat, während der Tod ihm nur zynische Gegenargumente für das Sterben liefert. Die überwältigenden Malereien Hieronymus von Bosch, allen voran die rechte Seite seines Lustgartens, zeigen die damals tief empfundene Furcht vor dem Sterben und Bestrafungen durch eine höhere Macht. Märchen aus der Grimmschen Sammlung zeigen die Ängste der einfachen Leute dieser Zeit auf – große Wälder, Hexen, Tiere, aber auch Zwiste in der eigenen Familie werden überformt, nicht anders entstanden Rotkäppchen, Hänsel und Gretel und Konsorten.

1931 wurde Marry Shelley's Frankenstein zum ersten Mal verfilmt.

1931 wurde Marry Shelley's Frankenstein zum ersten Mal verfilmt.

Schließlich in der Frühen Neuzeit und der Moderne werden die Themen konkreter. Marry Shelley skizziert in ihrem „Frankenstein“ die Gefahren einer zunehmend verantwortungslosen Wissenschaft, Edgar Allan Poe hingegen beschreibt das Grauen als unentrinnbar, egal, ob es in einer Foltergrube oder im eigenen Alkoholismus lauert. Lovecraft sucht derweil nach räumlichen und zeitlichen Grenzen, die er als erschreckend lebensfeindlich und mystisch beschreibt. Oft sind es sexuelle Tabus, die im kommerziellen Horror angesprochen werden.

Doch mit der Liberalisierung der gesellschaftlichen Werte und auch den beiden Weltkriegen ändert sich die Richtung. Im 20. Jahrhundert wird der Film als Horrormedium immer wichtiger, während die Bücher in den Hintergrund geraten.

Der Vampir als Sinnbild für den Ersten Weltkrieg: Szenenbild aus Nosferatu von 1922.

Der Vampir als Sinnbild für den Ersten Weltkrieg: Szenenbild aus Nosferatu von 1922.

Es sind auch die deutschen Stummfilme Nosferatu und Das Cabinet des Dr. Caligari, die neue Maßstäbe setzen. Ersterer ist eine inoffizielle Adaption von Bram Stoker´s „Dracula“, der sich aber nicht nur auf die sexuellen und gesellschaftskritischen Themen desselben bezieht, sondern den Schrecken des Ersten Weltkriegs aufarbeitet. Wie ein Sündenfall wirkt es, wenn die frohe, biedere Welt der ersten Szenen von einem entstellten Vampir zerstört wird. Kreuze werden an die Türen gemalt, Städte sterben aus, die unschuldige Protagonistin wird geraubt. Zweiterer aber beschreibt die undurchsichtigen Strukturen der Weimarer Republik und den Machtmissbrauch durch Wahnsinnige – weshalb kurz nach Kriegsende eine stringente Linie zwischen Caligari und Adolf Hitler gesucht wurde. Eben dieser Krieg sollte den Horrorfilm vorerst in Vergessenheit geraten lassen, zu frisch war der westliche Schock von den Gräueltaten in Europa, dass man diesen nicht noch in die Unterhaltungsindustrie einbinden wollte.

Es kamen aber mehrere unterschiedliche Filme zum Vorschein, die aus dem ehemals intellektuellen Horrorgenre ein omnipräsentes Unterhaltungsmedium machen sollten. Trashige Produktionen des Hammer Horror Studios aus England stehen nun christlich-konservativen Werken wie dem Exorzist gegenüber. Der italienische Giallo Suspiria beschränkt sich fast nur auf seine Bildgewalt, ein Wenn die Gondeln Trauer tragen Fähigkeiten des menschlichen Wahrnehmens, aber eben auch Traumata zum Thema hat. Anspruchsvoller Stoff also, entstanden im Schatten von Texas Chainsaw Massacre oder Blood Feast.

Heute sind wir an einem Punkt angekommen, an dem die Grenzen fliessend sind, wo man Thriller und Horror nicht mehr strikt voneinander trennen, sich hinter einem Horrorfilm sowohl Splatterschund als auch kontroverse Kunst stecken kann.

Es geht nicht nur darum, unerklärliche Dinge und komplexe soziale Probleme zu beschreiben. Wie in den alten Mythologien wird das nicht Greifbare auch erlebbar gemacht. Penelope wird nicht einfach missbraucht. Sie wird von nach ihr geifernden Inselarchonten in erdrückenden Diskussionen überredet, sich einen von ihnen sexuell hinzugeben – erst hier erkennt der Leser, um was für eine Art der Demütigung es sich eigentlich handelt. Genau so stellt das Ehepaar aus Lost Highway nicht einfach fest, dass der Mann seiner sexuellen Aufgabe nicht gewachsen ist, merkt eine Natalie Portman in Black Swan nicht, dass sie sich maßlos in ihre Erfolgssucht gesteigert hat – sie alle erkennen es erst während eines schrecklichen Wahns.

Der Protagonist treibt sich selbst in den Wahn und erschafft so den realen Horror (Szenenfoto aus Black Swan)

Der Protagonist treibt sich selbst in den Wahn und erschafft so den realen Horror (Szenenfoto aus Black Swan)

Der Horrorfilm hat also keineswegs ausgedient. Er ist ein exzellentes Medium, um Gefühle und Ängste zu kanalisieren, sie sichtbar zu machen. Man kann auf die Kartasis hoffen oder seine Angst im Raum stehen lassen. Mythisch, wie der Horrorfilm nun mal ist, entzieht er sich jeder Logik, möchte das Ungeklärte auf die Bühne zerren und karikieren. Er ist das andere Extrem zum Dokumentarfilm, das düstere, romantische Feld, auf dem wir uns fürchten, aber eben auch ausruhen können.

So düster und grottig auch die ein oder andere Neuerscheinung sein möge, es wird immer ein guter neuer Streifen herauskommen, der zu einem selbst und seiner Lebenssituation passt – immer den gelungenen Trash, die Spannung oder die philosophische Abhandlung geben. Und genau deshalb geben wir den Horrorfilmen auch immer wieder eine neue Chance!